Montag, 23. Februar 2009

Oscar-Gewinner "Slumdog" ist indisch und dennoch kein Bollywood

Von Hanns-Georg Rodek 23. Februar 2009, 18:03 Uhr

http://www.welt.de/kultur/article3258733/Slumdog-ist-indisch-und-dennoch-kein-Bollywood.html
Der Film ist der Superstar der diesjährigen Academy Awards: Acht Oscars hat "Slumdog Millionär" bekommen. Es zeigt den Überlebenskampf im größten Elendsviertel der Welt. Während Amerika den Film feiert, bleibt er in Indien umstritten. Seine brutalsten Szenen wären in einem Bollywood-Film undenkbar.
Slumdog Millionär


Vergangenen Mai fällte das Studio Warner Bros.eine Entscheidung: Die Tochterfirma „Warner Independent Pictures“ – zuständig für „kleine Filme“ unter 20 Millionen Dollar – musste schließen; sie war nicht profitabel genug. Eine schlechte Nachricht für all die Warner-Independent-Filme, die fertiggestellt, aber noch nicht ins Kino gelangt waren: Ihnen stand die Abschiebung direkt auf DVD bevor und damit das spurlose Versinken im großen Meer der Silberscheiben. Einer der Filme, denen solch schnelles Vergessen bevorstand, hieß „Slumdog Millionär“.

Hollywoods Konkurrenz aus Indien

„Slumdog“ drohte ein ähnliches Schicksal wie seinem Helden: beim Aufstieg zur Spitze jäh gestoppt zu werden. Jamal Malik, ein früheres Straßenkind aus dem Dharavi-Slum in Bombay, schafft es wider alle Wahrscheinlichkeit in die Endrunde der indischen Version von „Wer wird Millionär?“ – als die Polizei ihn festnimmt, weil sie sich nur Betrug hinter seinem Erfolg vorstellen kann: Er muss Fragen und Antworten im Voraus gewusst haben.

Nun ist das keine so absurde Vermutung; Robert Redford hat über ähnliche Vorgänge in den USA mit „Quiz Show“ auch einen Film gedreht. Aber der Ort in „Slumdog“ heißt nicht New York, sondern Bombay, und Aufklärung wird nicht vor einem Untersuchungsausschuss des Senats betrieben, sondern in einer Polizeistation. Danny Boyles Film beginnt mit Jamal, der an seinen Armen von der Decke hängt, Blut rinnt ihm aus dem Mund und Elektroschocks haben ihm das Bewusstsein geraubt.

Womit wir bei einem Missverständnis wären: „Slumdog Millionär“ ist kein Bollywood-Film, obwohl darin gesungen wird und Komponist A. R. Rahman gleich zwei der acht „Slumdog“-Oscars nach Hause nimmt, den für die Filmmusik und jenen für das beste Lied.

Eine solch brutale Folterszene fände nie den Weg nach Bollywood, so wenig wie die Mutter, die auf schreckliche Art und Weise vor den Augen ihrer Söhne stirbt oder der Junge, dem die Augen mit Säure ausgebrannt werden, um den Profit aus seiner Bettelei zu maximieren.

„Slumdog Millionär“ – trotz allem eigentlich eine Komödie – beruht auf einer Vorlage des indischen Romanciers und Diplomaten Vikas Swarup, das Drehbuch schrieb der Brite Simon Beaufoy, die Finanzierung kam aus England und den USA, gedreht wurde vor Ort mit indischen Darstellern, und in der ersten Hälfte des Films wird Hindi geredet, danach Englisch.

Auf den ersten Blick eine dieser bunten Mischungen, wie man sie in der globalisierten Kinoindustrie häufig erlebt. Aber vergleichen wir „Slumdog“ mit zwei anderen internationalen Koproduktionen. Die Themen von „Der Vorleser“ und „Operation Walküre“ sind so deutsch wie „Slumdog“ indisch ist, beide wurden ebenfalls an Originalschauplätzen gedreht und hatten einen angloamerikanischen Regisseur. Jedoch: Sowohl „Vorleser“ als auch „Walküre“ besetzen deutsche Figuren weitgehend mit englischsprachigen Schauspielern, und beide Filme sprechen Englisch, selbst bei Hitler auf dem Obersalzberg.

Das lehrt einiges über die Stellung dieser Länder in der Welt. Deutschland, die um die Wahrung seiner Position ringende Mittelmacht, sieht sich sprachlich kolonisiert, während Indien, die aufstrebende Weltmacht, sein Idiom behalten darf. Der Einsatz von Sprache ist eine der wichtigsten Waffen in jenem großen Tauziehen der Gegenwart, genannt Globalisierung.

Eine zweite Waffe ist das Image, das ein Land ausstrahlt – oder das darauf projiziert wird. Indien musste lange mit dem Schatten der Kolonie leben, und Filme, die der Westen als „typisch indisch“ ansieht, wie David Leans oscarnominierte „Reise nach Indien“, haben auf dem Subkontinent keinen guten Ruf. Bollywood – das wahre Bollywood – zeigt zwar fröhlich singende und tanzende Menschen, aber zugleich eine aufstrebende Mittel- und eine wohlhabende Oberschicht: Das sind wir, sagt das offizielle Indien.

„Slumdog Millionär“ zeigt etwas anderes, nämlich den Überlebenskampf im größten Elendsviertel der Welt, in Dharavi. Wer „Let’s Make Money“ gesehen hat, die Dokumentation über Risikokapitalisten, kennt Dharavi bereits; ein Hedge-Fundamentalist spinnt dort Pläne, wie man mitten in Bombay einen teuren Immobilienkomplex hochziehen könnte; die Stadt hat das Gelände zum Kaufpreis von 2,3 Milliarden Dollar ausgeschrieben.
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Die Slum-Bewohner sind zugleich Hindernis – sie sollen in Einzimmerwohnungen am Rande der Stadt – und Kapital: Ihre 300.000 Stimmen können Wahlen entscheiden. 1992/93 brachten fanatisierte Hindus in Bombay Hunderte Muslime um, eine Attacke, die in „Slumdog Millionär“ vorkommt. Hilfestellung erhielten die Fanatiker sowohl von der rechtsextremen Hindu- als auch von der Bharatiya-Janata-Partei, die prompt die nächsten bundesweiten Wahlen gewann.

Wenn in Indien gegen „Slumdog“ protestiert wird, hat dies sowohl mit einer etwas unüberlegten Titelwahl zu tun – der Hund ist in Indien ein unreines Tier –, als auch mit politischer Stimmungsmache. Der wirtschaftliche Aufschwung, den Bollywood zelebriert, ist an zwei Dritteln der Bevölkerung vorbeigegangen. Die Elite mag nach New York zum Shoppen jetten, doch unter den Hunderten von Millionen, die unter der Globalisierung leiden, hat sich eine Aversion gegen alles aufgebaut, das nach Westen riecht, inklusive westlicher Kultur.

Hin und wieder äußert sich dieser Unmut, so bei dem Kuss, den Richard Gere der Schauspielerin Shilpa Shetty auf die Wange pflanzte. Diese Geste, die sämtlichen Hindu-Konventionen widersprach, brachte öffentliche Verbrennungen von Postern der beiden Stars, und ein Richter in Jaipur erließ gar einen Haftbefehl gegen Gere wegen „Obszönität in der Öffentlichkeit“.

Nachdem „Slumdog“ Ende Januar in die indischen Kinos kam – noch eine Kränkung des nationalen Selbstbewusstseins: zwei Monate nach dem US-Start –, wurde ein Filmtheater in Patna, das ihn zeigte, geplündert. In einem halben Dutzend Bundesstaaten sind Klagen anhängig; die Begründungen reichen von Beleidigung durch das Wort „Dog“ bis zur Herabwürdigung des Gottes Ram.

Im Kampf gegen „Slumdog“ sind rechte Nationalisten und linke Anti-Globalisten einig, und beide versprechen sich Stimmengewinne auf Kosten der regierenden liberalen Kongresspartei. Im Übrigen beschränkt sich die Kritik nicht auf die radikalen Ränder. Salman Rushdie gestand, „kein sehr großer Fan“ des Films zu sein, und Bollywood-Superstar Aamir Khan verglich ihn mit „Gandhi“: „Kein indischer Film, sondern ein Blick auf Indien von außen.“

Das stimmt, doch übersehen die Kritiker einen wichtigen Punkt: Die Einflüsse, die aus „Slumdog“ sprechen, sind überwiegend indischen Ursprungs. Danny Boyle muss viele indische Filme gesehen haben, bevor er „Slumdog“ begann, vom „Guter Bruder, böser Bruder“-Krimi „Deewar“ bis zum Bombay-Gangsterdrama „Satya“.

Wenn man tief ins Herz von „Slumdog Millionär“ blickt, dann besteht der Muskel, der den Film antreibt, aus mehr indischen denn westlichen Fasern. Auch das unterscheidet ihn zum Beispiel von „Walküre“, der eine deutsche Geschichte in eine Hollywood-Thriller-Formel presst.

Bisher reagierte die US-Filmindustrie auf die Globalisierung, indem sie lokale Talente – wie Til Schweiger in Deutschland – anheuerte, um einen Film nach Schema H zu drehen und den Gewinn an die Zentrale zu überweisen. „Slumdog Millionär“ hingegen respektiert dieses Land und seine Kultur.

Die Firma Fox Searchlight, die Warner den Film abkaufte und so vor dem DVD-Nirwana rettete, wird dafür mit mehr als 200 Millionen Dollar an der Kinokasse belohnt werden. Gekostet hatte „Slumdog“ weniger als ein Zehntel.

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